«Auflösungs­erscheinungen der Rechtsstaatlichkeit»

    Professor Marcel Niggli ist einer der renommiertesten Rechtsgelehrten der Schweiz. Im Interview äussert er seine Bedenken zum Corona-Regime des Bundesrats. Die Exekutiv-Behörde bestimme selbst, wann sie welche Kompetenzen bekomme. «Es gibt auch kein Kriterium, wann das wieder aufhört», warnt Niggli. Für die Ungleichbehandlung von Geimpften und Ungeimpften gebe es keinen Grund. Ausserdem erklärt er, warum die Massnahmen nicht verhältnismässig sind.

    (Bild: zVg / Freunde der Verfassung) Professor Dr. Marcel Niggli: «Die Auflösung der Rechtsstaatlichkeit ist im Wesentlichen darin zu erkennen, dass die ganze Zeit Begriffe verwendet werden, von denen niemand so richtig weiss, was sie eigentlich heissen.»

    Sie betreiben als Rechtsprofessor einen eigenen YouTube-Kanal (ContraLegem). Das ist aussergewöhnlich. Was hat Sie dazu bewogen?
    Der ursprüngliche Anlass war das Verbot des Präsenzunterrichts. Ich suchte eine Möglichkeit, um irgendwie mit den Studenten zu kommunizieren. Dann wurde aber relativ schnell klar, dass es viele aktuelle Themen gibt, wie das Verhältnis von Recht und Moral, die Verhältnismässigkeit der Corona-Massnahmen oder die Rechtsstaatlichkeit. Ich möchte relevante Informationen auf unterhaltsame Weise vermitteln.

    Wir stimmen am 28. November über das Covid-Gesetz ab, vieles an der heutigen Lage geht aber auf das Epidemiengesetz zurück. Können Sie uns einen kurzen Überblick geben, welches Gesetz was regelt?
    Das Epidemiengesetz gibt es schon seit längerem. Es regelt, wie man eben mit Epidemien umzugehen habe und definiert die besondere und die ausserordentliche Lage. In all diesen Fällen gibt es besondere Kompetenzen, welche normalerweise bei den Kantonen liegen und geändert werden. Basierend auf der Corona-Entwicklung letztes Jahr, hat sich der Bundesrat dann genötigt gesehen, sich auf die Kompetenzen zu beziehen, die das Epdemiengesetz verleiht, und er hat entsprechende Verordnungen erlassen. Er hat also das Heft an sich genommen – und das Parlament war sehr glücklich darüber.

    Das Parlament hat seine Gesetzgebungskompetenzen ein Stück weit an den Bundesrat abgegeben. Ist das zulässig, oder gibt es da einen Konflikt mit der Gewaltenteilung?
    Wir sind jetzt schon in einem solchen Zustand, in dem das Epidemiengesetz nicht klar definiert, wann genau welche Bedingung zum Tragen kommt – zum Beispiel die ausserordentliche Lage, welche überhaupt nicht definiert wird. Die Kompetenznorm heisst immer«der Bundesrat kann». Das kann man entweder als eine Art Ermächtigungsgesetz (was aber ungute Anklänge an die 1930er Jahre hat) oder als Delegationsgesetz bezeichnen. Ich bin mit Ihnen einig, dass dies ein Problem ist, denn der Gesetzgeber kann und darf das nicht einfach tun. Denn der Gesetzgeber sind wir, und unser Vertreter, das Parlament, darf das nicht auf diese Art und Weise einfach an die Exekutive abgeben.

    Ein wichtiger Punkt im Covid-19 Gesetz ist der Artikel 3, die Quarantänebestimmungen. Für Geimpfte gelten demnach andere Bestimmungen als für Ungeimpfte. Unterdessen wurden diverse Studien publiziert, die belegen, dass geimpfte Personen auch ansteckend sind. Damit wird diese Ungleichbehandlung fragwürdig.
    Das Problem ist immer dasselbe. Wir knüpfen Konsequenzen an eine Unterscheidung, die so nicht tragfähig ist. Wenn geimpfte und ungeimpfte Personen beide krank werden und beide das Virus übertragen können, dann ist klar, dass das Kriterium Impfung kein geeignetes Unterscheidungskriterium ist. Wenn Geimpfte eben trotzdem ansteckend sind, dann gibt es keinen Grund, warum sie etwas tun dürfen, was die Ungeimpften nicht tun dürfen.

    Viele vertreten die Auffassung, die Freiheit des Einzelnen höre dort auf, wo sie die Freiheit eines anderen einschränke. Dies ist eine interessante Frage auch im Kontext des Covid-Gesetzes.
    Das könnte man vertreten, wenn es wahr wäre. Das Hauptproblem ist aber eben, dass die Geimpften auch ein Risiko darstellen. Eine klassische Impfung würde ja so funktionieren, dass man sich impft und danach kein Risiko mehr darstellt. Beim Corona-Virus ist das aber offensichtlich nicht der Fall.

    Das Covid-Gesetz überträgt dem Bundesrat die Kompetenz, das öffentliche Leben einzuschränken. Hat er jetzt noch mehr Macht, als sie ihm das Epidemiengesetz schon gibt?
    Nach meiner Meinung ist es keine Frage, dass das eine Ausweitung der Kompetenz ist. Zu Beginn hat der Bundesrat gesagt, er stütze sich teilweise direkt auf die Verfassung. Dies stand so in der Corona-Verordnung 2 genau einen Tag lang drin. Das sind so Geschichten, bei denen man merkt, dass es auch dem Bundesrat unwohl ist.

    Das Covid-Gesetz verlangt vom Bund, ein umfassendes Contact-Tracing sicherzustellen. Was muss ich mir unter «umfassend» vorstellen?
    Das weiss niemand. Meine Position wäre, dass alles zulässig ist, wenn wir es korrekt machen, also sauberes Handwerk anwenden. Wenn in einer Demokratie die Menschen wirklich wissen, was sie tun, und sie beschliessen Blödsinn, dann ist das zulässig. Denn wir tragen auch das Risiko, und am Schluss zahlen wir den Preis dafür. Die Auflösung der Rechtsstaatlichkeit ist im Wesentlichen darin zu erkennen, dass die ganze Zeit Begriffe verwendet werden, von denen niemand so richtig weiss, was sie eigentlich heissen. Umfassend heisst im Prinzip alles, ausser man schränkt es ein. Der Bundesrat bekommt eine Carte blanche. Wenn ich mit Kollegen rede, dann sagen sie: «Ja, aber der Bundesrat nutzt das ja nicht aus.» Aber er könnte, wenn er möchte. Der Witz an rechtsstaatlichen Vorgaben ist nicht, dass ich Vertrauen habe zu meiner Regierung, sondern eben gerade, dass ich kein Vertrauen habe. Es muss klar sein, wie weit sie gehen kann – und nicht weiter.

    (Bild: pixabay) Konflikt mit der Gewaltentrennung: Der Bundesrat hat das Heft an sich genommen.

    Sie haben einen Aufruf von Juristinnen und Juristen unterzeichnet, dass mit dem Covid-Gesetz ein Verstoss gegen 12 Artikel der Bundesverfassung vorliege. So sei etwa die Verhältnismässigkeit des staatlichen Handelns nicht gegeben. Können Sie das genauer erklären?
    Das Covid-19 Gesetz sieht vor, dass ich ein Zertifikat brauche, um bestimmte Dinge – wie z.B. einen Restaurantbesuch – zu unternehmen. Das Zertifikat darf aber aus Datenschutzgründen nicht identifizierbar sein, also müsste ich auch noch meinen Pass zeigen. Also zeige ich mein Zertifikat im Restaurant, und dieses erfasst meine Daten in einer zentralen Datenbank. Das heisst, es ist einfach gelogen, dass ich aus Datenschutzgründen meine Identität dem Staat nicht preisgeben müsse. Die Verhältnismässigkeit ist auch aufgrund der Tatsache nicht gegeben, dass auch geimpfte Personen ansteckend sind und ein Risiko darstellen. Das Risiko wird aber nicht wirklich definiert, es heisst einfach, Corona sei gefährlich, was ja sein mag, aber das Leben ist ja insgesamt gefährlich, man müsste das also konkretisieren. Man kann eine Verhältnismässigkeit gar nicht abschätzen, wenn man nicht weiss, von welchem Risiko wir reden.

    Wenn der Souverän diese Veränderungen gutheissen würde – würde dies den Verstoss gegen die Verfassung heilen, oder er nach wie vor rechtswidrig?
    Das ist eine schwierige Frage. Tatsache ist, dass in einer direkten Demokratie wie der Schweiz der Souverän gegen seine eigenen Vorstellungen verstossen darf – und es gilt trotzdem. Das Hauptproblem ist wieder die Definition der Sache. Wir sind ja nicht wir, es werden Kompetenzen gegeben. Die Frage ist dann: Dürfen wir, beziehungsweise unsere Vertretung im Parlament, unsere verfassungsmässige Aufgabe einfach an jemand anderen delegieren? Die Antwort ist wohl eher nein. Man müsste die Verfassung ändern. Mit dem Covid-19 Gesetz werden so weitreichende, nicht bestimmte Kompetenzen delegiert, dass man schon sehr deutlich sagen kann, dass auch eine Abstimmung, die das annimmt, nichts an dem verfassungswidrigen Zustand ändert.

    Wie ist es möglich, dass ein Gesetz mit rund einem Dutzend Verstössen gegen die Verfassung im Parlament zur Abstimmung gelangt?
    Es ist immer schwierig zu sagen, wieso die Dinge so passieren wie sie passieren. Aber meine Einschätzung ist, dass nicht nur die Bevölkerung, sondern auch das Parlament nicht mehr bereit ist, die Verantwortung für Entscheidungen zu übernehmen. Wenn das jemand nicht will, dann wird es natürlich schwierig, dann ist es naheliegend zu sagen: «Ach, ich weiss auch nicht, ob ich einen Tee oder Kaffee möchte, lesen Sie doch für mich aus.» Das kann ja auch eine Lösung sein, aber es ist nicht eine Lösung, die einer Demokratie würdig wäre.

    Als Bürger sind wir uns gewohnt, dass neue Gesetze nicht gelten, wenn ein Referendum ergriffen wird. Jetzt hat sich ein Paradigmenwechsel eingeschlichen: Die neuen Regeln gelten schon, obwohl das Referendum gültig zustande gekommen ist. Ist das rechtens?
    Das ist natürlich rechtens, wenn die Bevölkerung das so akzeptiert. Der zentrale Punkt aber ist tatsächlich, dass dies Auflösungserscheinungen sind: Es ist keine Frage mehr, die Rechtsstaatlichkeit ist im Begriff der Auflösung. Wenn jemand dem Rechtsstaat oder dem Parlament vorwirft, dass sie zu langsam seien, dann hat er offensichtlich ein Problem mit der Rechtsstaatlichkeit, dem Recht und der Demokratie. Man sollte dann nicht so tun, als wäre man gegenüber der Verfassung ein sehr freundlich eingestellter Mensch. Warum haben wir Verfassungen? Damit es nicht so einfach ist, etwas abzuändern.

    Dr. Philipp Gut


    Prof. Dr. Marcel Niggli hat an der Universität Freiburg den Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind das Wirtschaftsstrafrecht, die Rechtssoziologie und die Rechtsphilosophie.

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